Band 4 · 2018 – Thema: Ökonomie / Ökologie
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Allgemein
Till Heilmann antwortet hier mit einem Beitrag auf die Replik von Erhard Schüttpelz des Jahrbuchs Band 3 und setzt damit die von ihm in Band 2 zur Kritik und Problematisierung eines Denkens in Operationsketten angestoßene Diskussion fort:
Till A. Heilmann
Der Klang der breiten Rille
〈1〉 Erhard Schüttpelz hat meinem Text zum Begriff der Operationskette die Ehre einer ausführlichen Replik erwiesen. Die große Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit seiner Lektüre und seiner (Gegen-)Argumentation verdienen eine ebenso ausführliche Erwiderung. Der gegebene Moment und die Textsorte gebieten aber eine kurze Antwort. Ich möchte deshalb hier nur einen knappen Kommentar zu Schüttpelz’ zentraler These liefern und einige kritische Anmerkungen zu dem von ihm vorgebrachten mediengeschichtlichen Beispiel der 12-inch single machen.
〈2〉 Eingangs sei festgehalten, dass ich Schüttpelz’ Einschätzung, es handle sich bei unseren Differenzen vielfach um Fragen nur der Formulierung, teile. Auf die subtileren Unterschiede, die er in dankenswerter Klarheit herausgearbeitet hat, will ich nicht eingehen (die Leserin bilde sich selbst ein Urteil). Unsere grundlegende Differenz in der Sache scheint mir jedoch so wichtig, dass ich versuchen möchte, meine Kritik deutlicher zu artikulieren, als mir dies im ersten Text vielleicht gelungen ist.
〈3〉 Schüttpelz verteidigt in seiner Replik insbesondere den Gedanken der Vorgängigkeit von Operationsketten vor, wie er sagt, »allen beteiligten Größen«. Zusammengefasst lautet mein Einwand gegen diese These, dass sich damit ein Versprechen auf theoretisch-methodische Innovation und Radikalität verbindet, welches in einzelnen Analysen als Feststellung fragloser Wahrheiten eingelöst wird, insgesamt aber zu einer fragwürdigen Generalisierung des Gedankens führt, die von medialen bzw. medientechnischen Aspekten eher ablenkt. Anders gesagt: Ich halte die Annahme der Vorgängigkeit von Operationsketten für offenkundig richtig (wo sie sich auf Selbstverständliches bezieht) und falsch zugleich (wo sie nämlich absolute Geltung beansprucht). Mir scheint, dass die Popularität, die das Konzept in der Medienwissenschaft gegenwärtig genießt, sich zu einem beträchtlichen Teil aus dieser Spannung zwischen dem Richtigen (das indes nicht neu ist) und dem Neuen (das meines Erachtens nicht richtig ist) speist.
〈4〉 Was zunächst die von Schüttpelz erläuterte praktische und historische Dimension der Priorität von Operationsketten anbelangt: Welche Wissenschaft, so möchte ich erwidern, hat je anderes behauptet, als dass dem Vorhandensein von Artefakten deren Produktion und Reproduktion (in Praktiken des Entwerfens, Herstellens, Standardisierens, Instandhaltens usw.) vorgängig ist? Mir ist kein medientheoretischer Ansatz bekannt, der das bestreitet. (1) So zutreffend die Feststellung für die Herausbildung jeweiliger Medien bzw. Medientechniken auch ist, so sehr frage ich mich also, worin das Neue und Radikale eines Nachweises dieser fraglosen Wahrheit in praxeologischen Analysen liegen könnte?
〈5〉 Aber Schüttpelz geht es, so mein Eindruck, letztlich auch nicht um Einzelheiten. Die theoretisch-methodische Innovation und Radikalität des Konzepts ergibt sich für ihn, wenn ich es recht sehe, vielmehr aus der Verabsolutierung der Idee der Vorgängigkeit. Die schwierige und nicht nur in der Medienwissenschaft viel diskutierte Frage nach dem ›letzten Grund‹ von Technik wird dadurch endgültig zugunsten der Praxis entschieden. Über den Fall je einzelner Medientechniken, -geräte, -formate usw. hinaus soll die Priorität des praktischen Vollzugs von Operationsketten als allgemeines und unbedingtes Prinzip gelten. Zum einen scheint mir an dieser Auffassung nicht nur bedenkenswert, wie die Frage nach dem ›letzten Grund‹ von Technik entschieden wird (eben mit Verweis auf Praxis), sondern dass sie überhaupt auf so eindeutige Weise entschieden wird. Zum anderen aber bedeutet die Annahme einer verabsolutierten Vorgängigkeit nichts weniger als einen ontischen Primat der Operation vor dem Ergebnis, des Handelns vor dem Gegenstand, des Machens vor dem Gemachten. Dieses Postulat, das den ›Grund‹ von Technik erklären will, lässt als solchen folgerichtig aber nur ein Operieren, Handeln oder Machen denken, das (weil es doch »allen beteiligten Größen«, mithin jeder Technik vorgängig sein soll) selbst nicht technisch ist. Es impliziert einen un-technischen, von Materialien, Geräten usw. quasi unbefleckten Ursprung der Technik im ›nackten‹ Tun.
〈6〉 Die Annahme einer ursprünglichen Setzung durch nicht technische Praxis, »eine[r] Thätigkeit, die kein Object voraussetzt, sondern es selbst hervorbringt«, (2) rückt das radikal gedeutete Konzept der Vorgängigkeit von Operationsketten, wie ich meine, in die Nähe eines sonderbaren Idealismus der reinen Tat. Es überrascht mich denn auch nicht, dass in praxeologischen Untersuchungen an der analytischen Leerstelle, welche der kategorische Ausschluss des Technisch-Artefaktischen gelassen hat, häufig die lange verschmähte Figur des handelnden Subjekts wiederkehrt – was uns zur heuristischen Dimension der Priorität von Operationsketten und zum Beispiel der 12-inch single bringt.
〈7〉 Man mag den Einwand, eine radikal aufgefasste Vorgängigkeit von Operationsketten impliziere einen nicht technischen Ursprung von Technik, als ›rein theoretisches‹ Argument abtun, welches für Analysen konkreter medialer Praktiken ohne Belang ist. Aber mit der »heuristischen Vorordnung« (Schüttpelz) von Operationsketten vor artefaktische Medien(-techniken) gerät der spezifisch mediale bzw. medientechnische Anteil an den untersuchten Zusammenhängen eben allzu leicht aus dem Blick. Es droht verloren zu gehen, was eine medienwissenschaftliche Perspektive, wenigstens nach meinem Verständnis, auszeichnet: die Aufmerksamkeit für das Unvermutete, Zufällige, Widerständige, Eigensinnige, Unbeabsichtigte und (noch) Unverstandene von medialen Substanzen, Formen, Geräten usw. Die von Schüttpelz vorgestellte exemplarische Analyse der Entstehung der Maxi-Single aus den Operationsketten re-editing und re-mixing legt darüber beredt Zeugnis ab.
〈8〉 In seiner Zusammenfassung der Ereignisse und Prozesse, die zuletzt zur 12-inch single geführt haben sollen, schreibt Schüttpelz: »Sagen wir, ein neues Medium sei entstanden, oder zumindest eine neue Form der Schallplatte: vorher gab es Singles und LPs, jetzt gibt es Twelve-Inches. Wie sind sie entstanden? Der DJ, seine Tänzer, seine Platten, seine Mischungen, aber auch die Produktpalette der Studios, der Bands und der Plattenfirmen haben sich zusammen verändert, und zwar nicht nur vorher/
〈9〉 Gegen diese historische Rekonstruktion möchte ich aus medienwissenschaftlicher Sicht drei Punkte einwenden.
〈10〉 Erstens wären wider die These einer praktischen und historischen Priorität der Operationsketten die den Operationsketten (in diesem Fall: dem re-editing, re-mixing usw.) selbst vorausgesetzten Medientechniken anzuführen. Das mögliche Gegenargument, diesen Medien seien wiederum Praktiken vorgängig, hilft nicht, die Frage nach der Entstehung der Maxi-Single (oder irgendeiner Technik) zu beantworten, sondern verschiebt die Frage bloß ins tendenziell Unendliche. Es mag kleinlich erscheinen, auf dieser Selbstverständlichkeit zu bestehen: Aber ohne bereits vorhandene Medien wie Tonbänder, Tonbandgeräte, Mischpulte usw. hätten Moulton und Rodriguez die neuen Operationen des Zusammenschneidens und Abmischens längerer Lieder gar nicht realisieren können.
〈11〉 Zweitens legt die Darstellung bei Schüttpelz nahe, die Wahl der längeren Dubplatte sei eine folgerichtige medientechnische Antwort auf die vorangegangenen praktischen Veränderungen im Abmischen längerer Aufnahmen: »Erst im letzten Schritt wurde ein Artefakt (der Plattenrohling) einem neuen Gebrauch und einer bereits eingespielten praktischen Handhabung (der Praxis einer Verlängerung von Singles durch DJ-Abmischungen für Diskos und Radio) angepasst.« Das aber ist historisch zumindest irreführend, denn das Lied, das Moulton und Rodriguez erstmals in eine 10-Zoll-Dubplatte schnitten, war kein verlängerter Disko-Mix, sondern Al Downings für den Verkauf und das Radio aufgenommene und abgemischte, gewöhnlich ›kurze‹ Single »I’ll Be Holding On«. (3) Wie Schüttpelz selbst schreibt: Es war ein »Unfall«. Die Single hätte auf eine 7-Zoll-Dubplatte gepasst (und kam dann auch regulär als 7-inch single in den Verkauf), nur war eine solche gerade nicht zur Hand. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so gemeint ist, aber Schüttpelz’ Erzählung der Episode mutet für mich erstaunlich finalistisch an: Erst gab es längere Abmischungen, dann griff man zur längeren Dubplatte – et voilà, die Maxi-Single! Das Medium wäre so auf ein (nachgeordnetes) instrumentelles Mittel für einen (durch handelnde Subjekte voraus-)gesetzten Zweck reduziert.
〈12〉 Drittens, und das ist der wohl wichtigste Punkt, lässt Schüttpelz die mediale Eigenart von 10- und 12-Zoll-Platten in seiner Rekonstruktion der Entstehung der Maxi-Single völlig außer acht – und damit zugleich die Frage, was für deren Erfolg medientechnisch verantwortlich war. Weshalb sich die Maxi-Single, nachdem sie im Tonstudio ›entstanden‹ war, als neues mediales Format am Markt, bei DJs und in Diskotheken etablieren konnte, bleibt ungeklärt. Eine solche Erklärung ist aber nur mit Bezug auf die spezifische Medialität der Platten zu leisten. Der entscheidende Hinweis taucht in der von Schüttpelz zitierten Aussage Moultons zwar auf, erfährt dann allerdings keine weitere Beachtung mehr: »›José told me he was out of 7-inch blanks and would have to give me a 12-inch. I said, ›Eeugh, that’s ridiculous.‹ So he said, ›I know what we’ll do; we’ll spread the grooves and make it louder.‹ And of course, when I heard it, I almost died.‹« Was die Maxi-Single für DJs und Diskotheken so geeignet machte und ihr den Erfolg sicherte, war, was man von ihr zu hören bekam: ihr Klang. Und dieser Klang war ein technischer Effekt der Materialität und Form der 10- oder 12-Zoll-Dubplatte, welcher in keiner Weise auf die zeitlich früheren Praktiken des längeren Abmischens von Liedern durch Moulton und Rodriguez (oder irgendwelche anderen Operationsketten) zurückzuführen ist.
〈13〉 Moulton störte sich an dem kleinen beschriebenen Bereich eines für 7-Zoll-Platten gedachten Liedes auf der großen 10-Zoll-Dubplatte. Rodriguez machte die Rille breiter, um die gesamte Fläche der Platte zu füllen. Das aber hieß, dass er die Grundlautstärke und den Dynamikumfang der Aufnahme vergrößern musste. (4) Der neue, ›bessere‹ Klang war eine nicht intendierte Folge der Angewiesenheit auf ein nicht gewünschtes, aber zufällig vorhandenes mediales Artefakt, das sein technisches Potential auf unerwartete Weise offenbarte. Maxi-Singles konnten im Vergleich zu den herkömmlichen, in ihrer Abmischung für den Radioempfang ›mittig‹ zugeschnittenen 7-Zoll-Singles (5) dank der größeren Aufnahmefläche mit gesamthaft mehr Volumen, kräftigeren Bässen und ausgeprägteren Höhen aufwarten – womit sie speziell für den Einsatz in Diskotheken taugten.
〈14〉 Natürlich kann man die Entstehung der Maxi-Single so rekonstruieren, wie Schüttpelz es tut. Der medienwissenschaftliche Charakter einer Rekonstruktion bestünde meiner Ansicht nach aber vor allem darin, den spezifischen medialen oder medientechnischen Anteil an der Geschichte ihres Erfolges herauszustellen: den Klang der breiten Rille.
Anmerkungen
(1) Um als Beispiel ausgerechnet einen oft als Technikdeterministen gescholtenen Autor anzuführen: Friedrich Kittler hat in seiner Untersuchung des »Aufschreibesystems 1800« die veränderten Praktiken des Lese- und Schreibunterrichts um 1800 analysiert, die aus dem Medium Alphabet wie aus den Leserinnen und Lesern erst das gemacht haben, was um 1800 diskursbestimmend war; siehe Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985. ▲
(2) Johann Gottlieb Fichte, »Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre« [1797], in: Fichtes Werke, Bd. I, Zur theoretischen Philosophie I, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, S. 451–518, hier S. 468.▲
(3) Schüttpelz stützt sich in seiner Darstellung auf Bill Brewster/
(4) Die entsprechende Passage im Interview mit Moulton lautet: »[H]e said; ›Just Tom, I don’t have any more 7″ blanks. All I have is like the 10″.‹ And I said, ›Well, if that’s the only thing – we’re gonna do it, what difference does it make?‹ So he cut one, I said, ›It looks so ridiculous, this little tiny band on this huge thing. What happens if we just like… can we just like, you know, make it bigger?‹ He goes, ›You mean, like spread the grooves?‹ And I said, ›Yeah!‹ He goes, ›Then I’ve got to raise the level.‹ I said, ›Well, go ahead – raise the level.‹ And so he cut it like at +6. Oh, when I heard it, I almost died. I said, ›Oh my God, it’s so much louder and listen to it. Oh! I like that – why don’t we cut a few more?‹. So it was by accident, that’s how it was created.« »This is a Tribute to… Tom Moulton«, www.disco-disco.com/tributes/tom.shtml (letzter Zugriff: 17.11.2016) ▲
(5) »Because 45s were geared for radio, they were all ›middle‹, and you couldn’t cut a lot of [bass] onto the record. A lot of records didn’t have the fidelity and sounded terrible.« »This is a Tribute to… Tom Moulton«, www.disco-disco.com/tributes/tom.shtml (letzter Zugriff: 17.11.2016). ▲