2017 · Band 3


Pathos / Passibilität

  • Herausgeber des Bandes:
    Jörg Sternagel, Michael Mayer

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Menschliche Existenzen konstituieren sich im pathos (πάθος), das heißt im Widerfahrnis, in ethischen und aisthetischen Dimensionen singulärer Beanspruchung und erfahrener Passivität, in sinngebenden Setzungen, wider Erwarten, im (Er-)Leiden, vom Anderen her gedacht. Der Andere setzt sich in seiner Singularität und fordert Priorität: nicht als Bild meines Denkens, sondern in leiblich situierter Differenz. Weil der Mensch immer schon im nicht überwindbaren Unterschied zu einem Anderen steht, ist er in sich selbst nicht erfüllt, sondern begehrend. Dieses Begehren hebt sich nicht auf, sondern findet sich in der Übernahme von Verantwortung wieder, im Geben. Ein Geben, dem ein Nehmen und Nehmenkönnen noch vor allem Dank und aller Dankbarkeit entspricht, dem die bloße Bereitschaft zu nehmen und anzunehmen korrespondiert, bevor ich erkenne und überhaupt erkennen kann, was mir von wem wie und unter welchen Konditionen und mit welchen Erwartungen auch immer gegeben worden ist. Passibilität umschreibt somit jenes rätselhafte »Vermögen«, nicht und nichts zu vermögen als nur zu empfangen und für den Empfang empfindlich zu sein.  Die Gabe des Anderen fordert so vor den moralischen Regularien der Dankesbekundung das Ethos einer Passibilität heraus, die jedweder Ökonomie von Geben und Nehmen und der ihr inhärenten Logik von Reziprozität und Ausgleich immer schon voraus liegt. Denn der Andere zwingt zum Vergleich des Unvergleichlichen und fordert so Gerechtigkeit ein. Er steht ständig bereits da und kommt jedes Mal zuvor. Er zeigt sich gegenwärtig und unendlich zugleich, existiert konkret und unfassbar, ist kraft seiner Andersheit nahe und unendlich fern. Das Selbst ist vermöge der Alterität des Anderen nicht bei sich, sondern dem Anderen gegenüber immer schon im Rückstand. Die Egozentrik des Selbst verliert sich sukzessive in dieser Alltäglichkeit. Sie besitzt auch im Bereich der Phänomene keinen sicheren Punkt mehr und fordert eine andere Haltung (ethos) ein. Sichtweisen und Perspektiven verschieben sich bereits in der Wahrnehmung (aisthesis) zur Ver-Antwortung.

Inhalt

Beiträge

  • Robert Pfaller, Leidenschaf‌ten: Von der Empfindsamkeit zum Hunger nach Größe, 9–16
  • Alex Arteaga, Architektur der Verkörperung – Umwelt, Sinn, Ästhetik. Ein künstlerisches Forschungsprojekt als phänomeno­logische Ästhetik, 17–29
  • Juliane Schiffers, Erfahrungen von Passivität als (prekäre) Fundierungen des Selbst und die Haltung der Gelassenheit, 31–49
  • Kathrin Busch, Ästhetiken radikalisierter Passivität, 51–79
  • Jörg Sternagel, Pathologie des Leibes, 65–80[PDF]
  • Elisabeth Schäfer, Hélène Cixous’ Life Writings – Writing a Life, Oder: Das Auto-/Biographische ist nicht privat, 81–98[PDF]
  • Sabeth Kerkhoff, Für eine Kreolisierung der Theorie. Rhizomatische Fragmente, 99–114
  • Josef Vojvodik, »Das Verschwundene kehrt zurück«: Zur Ikonopathie der Trauer, 115–135
  • Emmanuel Alloa, Vom Stachel der Bilder, 137–162
  • Christiane Voss, Philosophie des Unbedeutenden oder: Der McGuffin als affizierendes Medium, 163–184

Übersetzung

  • Bernd Bösel, Einführung, 187–189
  • Elena del Río, Kino und das Affektiv-Performative, 191–214

Diskussion

  • Zu den Autoren, 235–237

3 Replik Heilmann Teaser

Till Heilmann antwortet hier mit einem Bei­trag auf die Replik von Erhard Schüttpelz des Jahr­buchs Band 3 und setzt damit die von ihm in Band 2 zur Kritik und Problematisierung eines Denkens in Opera­tions­ketten angestoßene Dis­kus­sion fort:

Till A. Heilmann

Der Klang der breiten Rille

Erhard Schüttpelz hat meinem Text zum Begriff der Opera­tions­kette die Ehre einer ausführlichen Replik erwiesen. Die große Sorg­falt und Ge­wis­sen­haftig­keit seiner Lek­türe und seiner (Gegen-)­Argumen­ta­tion ver­dienen eine ebenso aus­führ­liche Er­wide­rung. Der ge­ge­bene Moment und die Text­sorte gebieten aber eine kurze Ant­wort. weiterlesen